»Kriegsweihnachten«

Ab Heiligabend ruhen an vielen Fronten die Waffen

Für die Völkerverbrüderung und gegen den Menschheitskrieg – Friedensgedicht zu Weihnachten 1914. Ausschnitt aus der »Volkswacht« für Schlesien, Posen und die Nachbargebiete vom 24. Dezember 1914.

Für die Völkerverbrüderung und gegen den Menschheitskrieg – Friedensgedicht zu Weihnachten 1914. Ausschnitt aus der »Volkswacht« für Schlesien, Posen und die Nachbargebiete vom 24. Dezember 1914.

Das verhältnismäßig friedliche Weihnachten 1914 ist bis heute in der Erinnerung an den Ersten Weltkrieg präsent. Das Phänomen der Übereinkunft zwischen gegnerischen Soldaten gab es vereinzelt auch schon vor dem 24. Dezember 1914. Nun aber kam es an vielen Stellen der Westfront und teilweise auch im Osten zu »Verbrüderungen«. Es wurden Feuerpausen abgesprochen, Zigaretten und andere »Liebesgaben« aus der Heimat geteilt und getauscht, Weihnachtslieder gesungen und sogar Fußball gegeneinander gespielt. Die Oberste Heeresleitung sah darin eine Gefahr für die Kampfmoral und somit den Fortgang des Kriegs und belegte solche Annäherungen fortan mit Strafen.[1] Die in den Tageszeitungen abgedruckten offiziellen Nachrichten des Großen Hauptquartiers verschwiegen diese Gesten des Friedens.

Schon Wochen vor dem Fest wurde auch in sozialdemokratischen Zeitungen vom »Vaterländischen Frauenverein« zur Abgabe von »Liebesgaben« an Soldaten aufgerufen. Ausschnitt aus der »Volksstimme« (Magdeburg) vom 5. November 1914.

Schon Wochen vor dem Fest wurde auch in sozialdemokratischen Zeitungen vom »Vaterländischen Frauenverein« zur Abgabe von »Liebesgaben« an Soldaten aufgerufen. Ausschnitt aus der »Volksstimme« (Magdeburg) vom 5. November 1914.

»Der ernsten Zeit angemessene Kriegs-Weihnachtslieder« – Anzeige in der »Volksstimme« (Magdeburg) vom 12. Dezember 1914.

»Der ernsten Zeit angemessene Kriegs-Weihnachtslieder« – Anzeige in der »Volksstimme« (Magdeburg) vom 12. Dezember 1914.

[1] Vgl. Christoph Jahr, Weihnachten 1914, in: Gerhard Hirschfeld/Gerd Krumeich/Irina Renz (Hrsg.), Enzyklopädie Erster Weltkrieg, Paderborn/München etc. 2003, S. 957–959 und Wolfgang Kruse, Krieg und nationale Integration. Eine Neuinterpretation des sozialdemokratischen Burgfriedensschlusses 1914/15, Essen 1994, S. 193.

Links zu den Quellen: »Volksstimme« (Magdeburg) vom 12. Dezember 1914, vom 5. November und »Volkswacht« für Schlesien, Posen und die Nachbargebiete vom 24. Dezember 1914.

Feldpostbriefe

Briefe von der Front enthalten Friedensrufe

Die Feldpost war die wichtigste Verbindung zwischen Heimat und Front. Feldpostbrief eines Beamten der Feldpost in der »Volksstimme« (Magdeburg) vom 16. Dezember 1914.

Die Feldpost war die wichtigste Verbindung zwischen Heimat und Front. Feldpostbrief eines Beamten der Feldpost in der »Volksstimme« (Magdeburg) vom 16. Dezember 1914.

Von Kriegsbeginn an wurden in den Zeitungen des Kaiserreichs Auszüge aus den Feldpostbriefen der Soldaten an den Fronten veröffentlicht. Die Feldpost unterlag der Militärzensur. Diese achtete insbesondere darauf, dass keine kriegstaktischen oder die Moral schwächenden Passagen verbreitet wurden. Mit diesen Einschränkungen wurden persönliche Schilderungen der Kriegserlebnisse weitgehend gestattet. Neben Darstellungen von heroischen Kampfhandlungen und dem Alltag im Feld fanden so auch vereinzelt Berichte vom Grauen des Kriegs ihren Weg in die Heimat. Der Verdruss gegen den Krieg schien besonders unter den sozialdemokratischen oder ihr nahestehenden Soldaten zu wachsen.[1] Immer häufiger drückten sie in kurzen Sätzen ihren Wunsch nach baldigem Frieden, einem Ende der »Menschenschlächterei« oder gar Kritik an den »Anstiftern« des Völkermordens aus:

»Wie zufällig klingt´s mir ironisch in den Ohren: ›Der Krieg ist herrlich, der Krieg ist schön.‹ Käme mir der Schreiber dieser Zeilen einst zu Gesicht, ich wollt ihm seine Theorie austreiben.« (Dezember 1914)
»Auf Grund meiner Betrachtungen hier kann ich Euch versichern, daß unter den seinerzeit aus dem Kriege heimkehrenden Soldaten hunderttausende feuriger Apostel des Friedens sein werden.« (Dezember 1914)[2]
Französische und deutsche Soldaten teilen sich Schafe. Auszug eines Feldpostbriefs mit Friedenswunsch aus der »Volksstimme« (Magdeburg) vom 9. Dezember 1914.

Französische und deutsche Soldaten teilen sich Schafe. Auszug eines Feldpostbriefs mit Friedenswunsch aus der »Volksstimme« (Magdeburg) vom 9. Dezember 1914.

»Feldpostschreibstuben« halfen den Angehörigen in der Heimat beim Verfassen und richtigen Versenden der Post ins Feld. Ausschnitt der »Volkswacht« für Schlesien, Posen und die Nachbargebiete vom 2. November 1914.

»Feldpostschreibstuben« halfen den Angehörigen in der Heimat beim Verfassen und richtigen Versenden der Post ins Feld. Ausschnitt der »Volkswacht« für Schlesien, Posen und die Nachbargebiete vom 2. November 1914.

Mit der Feldpost wurden auch »Liebesgaben« aus der Heimat an die Front gesendet. Das konnten kleine Süßigkeiten, aber auch größere Geschenke sein. Anzeige des Kaufhauses Rudolph Karstadt aus dem »Lübecker Volksboten« vom 15. Januar 1915.

Mit der Feldpost wurden auch »Liebesgaben« aus der Heimat an die Front gesendet. Das konnten kleine Süßigkeiten, aber auch größere Geschenke sein. Anzeige des Kaufhauses Rudolph Karstadt aus dem »Lübecker Volksboten« vom 15. Januar 1915.

Improvisierte Feldpoststelle in einer Kirche in Mi[e]runsken (ehem. Ostpreußen). Bild aus der Publikation Wilhelm Düwell, Kriegsberichte aus Ostpreußen und Rußland 1914, Berlin 1914, S. 129 (zugeschnitten); digitalisiert von der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz. Rechte: CC BY-NC-SA 3.0 DE.

Improvisierte Feldpoststelle in einer Kirche in Mi[e]runsken (ehem. Ostpreußen). Bild aus der Publikation Wilhelm Düwell, Kriegsberichte aus Ostpreußen und Rußland 1914, Berlin 1914, S. 129 (zugeschnitten); digitalisiert von der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz. Rechte: CC BY-NC-SA 3.0 DE.

[1] Vgl. Wolfgang Kruse, Krieg und nationale Integration. Eine Neuinterpretation des sozialdemokratischen Burgfriedensschlusses 1914/15, Essen 1994, S. 184ff.
[2] Diese und weitere Auszüge aus Feldpostbriefen, die in sozialdemokratischen Zeitungen wiedergegeben wurden, finden sich abgedr. in: ebd., S. 185ff.

Links zu den Quellen: »Volksstimme« (Magdeburg) vom 9. Dezember 1914 und vom 16. Dezember 1914, »Volkswacht« für Schlesien, Posen und die Nachbargebiete vom 2. November 1914 und »Lübecker Volksbote« vom 15. Januar 1915.

»Nachts im Schützengraben«

Kriegsberichterstatter Wilhelm Düwell berichtet von der Front im Osten

Ausschnitt des Berichts von Wilhelm Düwell im »Lübecker Volksboten« vom 16. Dezember 1914.

Ausschnitt des Berichts von Wilhelm Düwell im »Lübecker Volksboten« vom 16. Dezember 1914.

Wie Gustav Noske und Adolph Köster von der Front im Westen berichtete der sozialdemokratische Redakteur Wilhelm Düwell seit Ende August 1914 regelmäßig von den Kämpfen gegen Russland. Für die sozialdemokratischen Zeitungen, allen voran für seinen ehemaligen Arbeitgeber, den »Vorwärts«, waren Düwells Eindrücke von der Front äußerst wichtig. Nicht selten zierten sie das Titelblatt. Als privater Berichterstatter und Sozialdemokrat sollte er den Krieg so darstellen, wie er sich wirklich zeigte; nicht so, wie er in den Berichten des Großen Hauptquartiers erschien. Dennoch musste er sich an die offiziellen Vorgaben halten, die regierungskritische Passagen, taktische Einzelheiten oder zu brutale Schilderungen nicht zuließen – was auch dazu führte, dass seine Berichte meist aus dem Hinterland und nicht direkt vom Kampfgeschehen handelten. Am 10. Dezember 1914 wagte sich Düwell im Schutz der Nacht vor zu den Schützengräben und beschrieb die dortigen Bedingungen.

Die ersten Kriegsberichte von Wilhelm Düwell erschienen im November 1914 gesammelt als Broschüre im Verlag des »Vorwärts«, welche von der Staatsbibliothek zu Berlin digitalisiert wurde: Wilhelm Düwell, Kriegsberichte aus Ostpreußen und Rußland 1914, Berlin 1914.10.12. Nachts im Schützengraben_1_Duewell Kriegsberichte_Staatsbibliothek zu Berlin_CC BY-NC-SA 3.0 DE10.12. Nachts im Schützengraben_2_Duewell Kriegsberichte_Staatsbibliothek zu Berlin_CC BY-NC-SA 3.0 DE

Bilder aus der Publikation Wilhelm Düwell, Kriegsberichte aus Ostpreußen und Rußland 1914, Berlin 1914, S. 21, 39 und 75 (zugeschnitten); digitalisiert von der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz. Rechte: CC BY-NC-SA 3.0 DE.

Bilder aus der Publikation Wilhelm Düwell, Kriegsberichte aus Ostpreußen und Rußland 1914, Berlin 1914, S. 21, 39 und 75 (zugeschnitten); digitalisiert von der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz. Rechte: CC BY-NC-SA 3.0 DE.

Link zur Quelle:»Lübecker Volksbote« vom 16. Dezember 1914.

Weitere Milliarden für den Krieg

Der Reichstag bewilligt erneut Kriegskredite

Zum ersten Mal nach der Sitzung vom 4. August 1914 trat am Nachmittag des 2. Dezember 1914 in Berlin der Reichstag zusammen, um über weitere fünf Milliarden Mark für den Krieg zu entscheiden. Noch am Vormittag hatte es in einer Fraktionssitzung der SPD heftige Auseinandersetzungen über den Wortlaut der Erklärung zur Zustimmung gegeben. Insbesondere Parteivorsitzender Hugo Haase bestand auf einen Verweis auf das Unrecht, welches mit der Verletzung der Neutralität Belgiens begangen worden war. Außerdem verwehrte er sich dagegen, die Erklärung selbst verlesen zu müssen. Erst nach Zureden Friedrich Eberts und Richard Fischers konnte er überzeugt werden.[1] Die anschließende Reichstagssitzung erlebte der entschiedene Gegner Haases, Eduard David, wie folgt:

»Ungeheurer Andrang auf den Tribünen. Habe meinem Bruder Theodor eine Karte verschafft. Der Eindruck der Worte [Johannes] Kaempfs zu [Ludwig] Franks Tode ist ein tiefer. Die Rede des Kanzlers ist sehr gut und wirksam. Die Erklärung Haases stößt auf eisige Stimmung im ganzen Hause; die vereinzelten Beifallsbezeugungen aus den Reihen unserer Radikalen machen einen jämmerlich dünnen Eindruck. Die bürgerliche Gegenerklärung [Dr. Peter Spahn, Zentrumspartei] wird mit mächtigem Beifall aufgenommen.«[2]

Bei der anschließenden Gesamtabstimmung erhoben sich alle Abgeordneten zur Bewilligung von ihren Plätzen – alle, bis auf einen. Das Protokoll verzeichnet: »Rufe: einstimmig! – Zurufe: Gegen eine Stimme!«[3] Karl Liebknecht war sitzen geblieben. In seinen Augen führte das Kaiserreich keinen Verteidigungs-, sondern einen auf Annexionen und Ausschaltung der Arbeiterbewegung zielenden imperialistischen Krieg. Bei seinen Kollegen stieß dieser Bruch der Fraktionsdisziplin auf Ablehnung, Teile der Parteibasis dagegen schrieben ihm daraufhin Solidaritätsbekundungen. In der Folgezeit wuchs die innerparteiliche Opposition weiter an. Ein Jahr später, im Dezember 1915, stimmten bereits 20 Abgeordnete gegen eine erneute Bewilligung.[4]

Karl Liebknecht gab noch in der Sitzung eine Erklärung zur Ablehnung der Kriegskredite zu Protokoll (linke Spalte), welche später als Flugblatt gedruckt wurde. Quelle: Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung, 6/FLBL005307.

Karl Liebknecht gab noch in der Sitzung eine Erklärung zur Ablehnung der Kriegskredite zu Protokoll (linke Spalte), welche später als Flugblatt gedruckt wurde. Quelle: Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung, 6/FLBL005307.

[1] Vgl. den Eintrag zum 2. Dezember 1914, in: Das Kriegstagebuch des Reichstagsabgeordneten Eduard David 1914 bis 1918, bearb. v. Susanne Miller (= Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien. Erste Reihe: Von der konstitutionellen Monarchie zur parlamentarischen Republik, hrsg. v. Werner Conze u. Erich Matthias, Bd. 4), Düsseldorf 1966, S. 78ff.
[2] Ebd., S. 80.
[3] Reichstagsprotokolle, 3. Sitzung, Mittwoch den 2. Dezember 1914, S. 22, URL: <http://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt_k13_bsb00003402_00024.html>.
[4] Vgl. Wolfgang Kruse, Krieg und nationale Integration. Eine Neuinterpretation des sozialdemokratischen Burgfriedensschlusses 1914/15, Essen 1994, S. 182ff. Vgl. insgesamt auch den Eintrag zum 2. Dezember 1914, in: Franz Osterroth/Dieter Schuster, Chronik der deutschen Sozialdemokratie. Electronic ed., Bd. 1: Bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, Bonn 2001.

Gegen wen kämpfen wir?

SPD-Reichstagsfraktion debattiert über Kriegsziele und Frieden

Marschierende Soldaten. Während immer mehr Männer in den Krieg ziehen, plant die Regierung neue Ausgaben. Quelle: Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung, 6/FOTB000774.

Marschierende Soldaten. Während immer mehr Männer in den Krieg ziehen, plant die Regierung neue Ausgaben. Quelle: Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung, 6/FOTB000774.

Am 29. und 30. November 1914 kam es in zwei Fraktionssitzungen zu Auseinandersetzungen über die neuen Kriegskredite. Neben den schon im Fraktionsvorstand angesprochenen Bedingungen wurde die generelle Kritik am Ablauf des Kriegs lauter. Während die Mehrheit der Sozialdemokraten weiterhin dem Glauben anhing, einen Verteidigungskrieg gegen das zaristische Russland zu führen, trat nun die Frage, welche Kriegsziele im Westen verfolgt würden, immer deutlicher zutage. Karl Liebknecht hielt eine lange Rede gegen den von »deutschen Imperialisten inszenierten Eroberungskrieg« und forderte dessen sofortiges Ende. Selbst der dem rechten Parteiflügel zuzurechnende Eduard Bernstein hegte nach der Lektüre englischer Zeitungsveröffentlichungen inzwischen Zweifel an der Legende des Verteidigungskriegs.[1] Hugo Haase brachte weiterhin Bedingungen ein, die im Gegenzug zu einer erneuten Bewilligung zu stellen wären. Insbesondere sollten jegliche Annexionen ausgeschlossen und der Bruch der belgischen Neutralität offiziell bedauert werden. Zudem müsste die im Reichstag abgegebene Erklärung die Forderung nach einem raschen Frieden beinhalten. Gegen solche Verlautbarungen sprachen sich unter anderem Philipp Scheidemann und Gustav Noske aus.[2] Zur Zufriedenheit des reformistischen Parteiflügels wurden die Vorschläge von der Mehrheit der Fraktion abgelehnt. Eduard David notierte:

»Mir fallen zwei schwere Steine vom Herzen. Die Erklärung wäre gründlich versaut gewesen. Der Friedenspassus wäre als ein höchst bedenkliches Schwäche-Eingeständnis, als Bitte um Frieden und Gnade ausgelegt worden. Der belgische Passus wäre ein skandalöser Stoß in den Rücken des eigenen Volkes gewesen.«[3]

Die meisten sozialdemokratischen Politiker hielten an der Hoffnung, durch eine Beteiligung am Krieg eine stärkere Position in der Zeit danach zu haben, fest. Man kämpfte primär nicht gegen Engländer und Franzosen, sondern gegen den englischen und französischen Kapitalismus. Hermann Molkenbuhr skizzierte solche Überlegungen am 30. November in seinen Tagebuchaufzeichnungen:

»Das Deutsche Reich ist das Land, welches die Arbeiter nach ihrem Sinn umformen wollen. Sie wollen Besitz ergreifen von dem Reiche. Da haben sie ein Interesse, es nicht zerschlagen zu lassen. Deutschlands Unabhängigkeit zu erhalten, das wird mit Hilfe der Arbeiter gelingen. Aber nach dem Frieden muß mit der bisherigen Politik gründlich gebrochen werden. Gelingt es Deutschland zu sozialisieren – das einzige Mittel, die Wunden des Krieges schnell zu heilen –, dann wird der soziale Gedanke überspringen nach Frankreich und England und hierdurch die Basis für die Interessenverschmelzung der Völker von Westeuropa gefunden.«[4]

[1] Vgl. Eintrag zum 7. November 1914, in: Das Kriegstagebuch des Reichstagsabgeordneten Eduard David 1914 bis 1918, bearb. v. Susanne Miller (= Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien. Erste Reihe: Von der konstitutionellen Monarchie zur parlamentarischen Republik, hrsg. v. Werner Conze u. Erich Matthias, Bd. 4), Düsseldorf 1966, S. 65.
[2] Vgl. insgesamt die Einträge zum 29. und 30. November 1914, in: ebd., S. 73f.
[3] Ebd., S. 74.
[4] Bernd Braun/Joachim Eichler (Hrsg.), Arbeiterführer – Parlamentarier – Parteiveteran. Die Tagebücher des Sozialdemokraten Hermann Molkenbuhr 1905 bis 1927, München 2000, S. 235.

Bloß ein Friedensinstrument

Karl Kautsky zweifelt an der Friedenswirkung der Internationale

Karl Kautsky um 1918. Quelle: Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung, 6/FOTA063979.

Karl Kautsky um 1918. Quelle: Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung, 6/FOTA063979.

Am 27. November 1914 veröffentlichte Karl Kautsky in der »Neuen Zeit« einen Aufsatz, in dem er den Bemühungen der Parteilinken, die Internationale gegen den Krieg zu mobilisieren, ein grundsätzliches Argument entgegenstellte: Die Internationale sei im Wesentlichen ein Friedensinstrument. Nun herrsche aber Krieg, was aus ihr ein unwirksames Werkzeug mache. Trotzdem gelte es, ihren Wert für zukünftige Friedenszeiten hochzuhalten.[1] Seine Schlussfolgerungen untermauerte er mit einer historischen Betrachtung der Differenzen und Übereinstimmungen innerhalb der Sozialdemokratie in Konfliktzeiten. Damit traf er den linken Parteiflügel an empfindlicher Stelle – schließlich beruhten dessen Konzeptionen durchgängig auf internationaler Verständigung. Rosa Luxemburg verurteilte seine These scharf. Im April 1915 erschien die erste Ausgabe der Zeitschrift »Die Internationale«, in der die inzwischen inhaftierte Kriegsgegnerin mit den Aussagen Kautskys abrechnete. In bitterironischem Ton formulierte sie Kautskys »Korrektur« der Botschaft des Kommunistischen Manifests: »Proletarier aller Länder, vereinigt euch im Frieden, und schneidet euch die Gurgeln ab im Kriege!«[2] Der Wiederaufbau der Internationale stand für sie an erster Stelle.

[1] Karl Kautsky, Die Internationalität und der Krieg, Berlin 1915, S. 37f. Vgl. dazu auch den Eintrag zum 27. November 1914, in: Franz Osterroth/Dieter Schuster, Chronik der deutschen Sozialdemokratie. Electronic ed., Bd. 1: Bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, Bonn 2001.
[2] Rosa Luxemburg, Der Wiederaufbau der Internationale, in: dies., Gesammelte Werke, Bd. 4, Berlin 2000, S. 20–32. Vgl. auch Friedhelm Boll, Frieden ohne Revolution? Friedensstrategien der deutschen Sozialdemokratie vom Erfurter Programm 1891 bis zur Revolution 1918, Bonn 1980, S. 144.

Kautskys Aufsatz erschien 1915 nochmals als Broschüre. Die Staatsbibliothek zu Berlin hat sie digitalisiert: Karl Kautsky, Die Internationalität und der Krieg, Berlin 1915.