»Arbeitslosigkeit und Arbeitslosenfürsorge«

Große regionale Unterschiede in der Arbeitslosenfürsorge

Bericht der »Volkswacht« (Westpreußen) vom 25. Februar 1914.

Bericht der »Volkswacht« (Westpreußen) vom 25. Februar 1914.

Trotz der wirtschaftlichen Hochkonjunktur der letzten beiden Jahrzehnte im Deutschen Reich und einer relativ geringen Arbeitslosenquote im geschätzten Bereich von 2–3% vor dem Ersten Weltkrieg (eine offizielle Quote wurde erst ab 1927 errechnet)[1], blieb der Kampf gegen Arbeitslosigkeit ein Kernthema der Arbeiterbewegung. Wer das Pech hatte, seine Anstellung zu verlieren, war existenziell gefährdet. Die teilweise durch die Gemeinden geleistete Arbeitslosenversorgung mit Nahrungsmitteln reichte oft nicht zum Leben aus. Wie die »Volkswacht« an den Beispielen Dresden, Berlin und Zittau verdeutlichte, gab es zudem große regionale Unterschiede. Eine staatlich geregelte Arbeitslosenversicherung wurde zwar im Reichstag diskutiert[2], jedoch erst zur Zeit der Weimarer Republik 1927 eingeführt. Eine Möglichkeit zur sozialen Absicherung boten Unterstützungskassen für gewerkschaftlich organisierte Arbeiterinnen und Arbeiter an. Um vor dem Schicksal der Arbeitslosigkeit zu warnen, wurde das Thema in der gewerkschaftlichen und sozialdemokratischen Presse oft aufgegriffen.

Link zur Quelle: »Volkswacht« (Westpreußen) vom 25. Februar 1914.

[1] Klaus Schrader/Hans H. Glismann, Working Paper. Die Reform der deutschen Arbeitslosenversicherung vor dem Hintergrund ihrer Geschichte, Kiel 2002, S. 4.

[2] Vgl. dazu: Edmund Fischer, Arbeitslosigkeit und Arbeitsscheu, in: Sozialistische Monatshefte, 1914, H. 4, S. 223–227. Die dortige Sicht auf ›Arbeitsscheue und Vagabunden‹ als geistig Kranke sollte als klare Abgrenzung zu arbeitswilligen Arbeitslosen dienen. Edmund Fischer, SPD-MdR für Zittau, war vor seiner Tätigkeit als Redakteur und Politiker als Holzbildhauer auf Wanderschaft gewesen.

»Ein Schreckensurteil gegen eine Friedensrede«

Strafkammer in Frankfurt am Main verurteilt Rosa Luxemburg zu einem Jahr Gefängnis

Ausschnitt aus der »Volksstimme« vom 22. Februar 1914.

Ausschnitt aus der »Volksstimme« vom 22. Februar 1914.

Rosa Luxemburg, Wortführerin des linken Parteiflügels der SPD, warnte in ihren Reden schon 1913 vor der Gefahr eines Weltkriegs und kritisierte den wachsenden Militarismus im Kaiserreich. Anfang 1914 wurde sie angeklagt, weil sie bei zwei Veranstaltungen in Bockenheim und Fechenheim im September 1913 öffentlich zum Kampf gegen die Kriegsgefahr aufgerufen und an alle Arbeiter appelliert hatte, im Falle eines Kriegs nicht auf ihre französischen Brüder zu schießen. Rosa Luxemburg wurde von der Strafkammer Frankfurt am Main wegen »Aufforderung zum Ungehorsam gegen behördliche Anordnungen und Befehle« zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Trotz ihrer erfahrenen Anwälte Paul Levi und Kurt Rosenfeld ließ sie es sich nicht nehmen, auch selbst eine flammende Verteidigungsrede zu halten. Hierin verdeutlichte sie, dass über einen Krieg keineswegs die Obrigkeit, sondern die Menge der werktätigen Bevölkerung zu entscheiden habe. Der Annahme des Staatsanwalts, dass Fluchtgefahr herrsche, entgegnete sie: »Ein Sozialdemokrat flieht nicht. Er steht zu seinen Taten und lacht Ihrer Strafen. Und nun verurteilen Sie mich!«[1] Luxemburgs Verteidigungsrede wurde unmittelbar nach dem Prozess mehrfach publiziert. Innerhalb der Arbeiterschaft erhielt sie nach der Verurteilung viel Zuspruch. So fanden sich im Februar und März in mehreren deutschen Städten Menschen zusammen, um gegen das Urteil zu protestieren. Zum Haftantritt kam es erst ein Jahr später, im Februar 1915.

Bildausschnitt: Rosa Luxemburg mit ihrem Anwalt und Vertrauten Paul Levi auf dem Weg zum Prozess. Fotograf: Alfred Grohs, Berlin. Rechteinhaber nicht ermittelbar.

Bildausschnitt: Rosa Luxemburg mit ihrem Anwalt und Vertrauten Paul Levi. Fotograf: Alfred Grohs, Berlin. Quelle: Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung.

Link zur Quelle: »Volksstimme« vom 22. Februar 1914.

[1] Rosa Luxemburg, Reden, hrsg. v. Günter Radczun, Leipzig 1976, Kap. 47, digitalisiert von Projekt Gutenberg-DE.

Eisenbahnbau in ›Deutsch-Ostafrika‹?

SPD-Reichstagsfraktion stimmt über die Bewilligung von Krediten zum Ausbau der Eisenbahn in der Kolonie ›Deutsch-Ostafrika‹ ab und stellt Bedingungen

Wer die ›Weltverteilung‹ nicht guthieß, galt bei Befürwortern des Kolonialismus als ›Vaterlandsverräter‹. Postkarte der Zentrumspartei, ca. 1912. Rechteinhaber nicht ermittelbar.

Wer die ›Weltverteilung‹ nicht guthieß, galt bei Befürwortern des Kolonialismus als ›Vaterlandsverräter‹. Postkarte der Zentrumspartei, ca. 1912. Quelle: Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung.

Seit 1891 verwaltete das Deutsche Reich die vorher durch die »Deutsch-Ostafrikanische Gesellschaft« errichtete Kolonie ›Deutsch-Ostafrika‹. Zur weiteren Erschließung sollte eine neue Eisenbahnlinie gebaut werden, die in den Nordwesten der Kolonie (heutiges Ruanda) führte. Auf der Fraktionssitzung am 18. Februar 1914 stimmte die SPD-Reichstagsfraktion mit 48 gegen 11 Stimmen für eine Bewilligung der dazu notwendigen Kredite unter strengen Bedingungen: Die am Bau beschäftigten Arbeiter sollten keinem Arbeitszwang unterliegen und sowohl mit Verpflegung als auch medizinisch ausreichend versorgt werden. ›Eingeborene‹ sollten nicht aus den zu erschließenden Gebieten in die Plantagen verschleppt und ihr Eigentum geachtet werden. Zudem sollten keine neuen Plantagen mehr zugelassen, der Arbeitszwang seitens der Behörden und der Kolonialisten generell eingestellt und alle Arbeitsverhältnisse in den ›Schutzgebieten‹ durch Arbeitszeitregelungen und Minimallöhne gerechter gestaltet werden.[1] Obwohl der Reichstag nach ausgiebiger Diskussion die nötigen Mittel schließlich bewilligte, wurde das Projekt aufgrund des Ersten Weltkriegs nicht mehr verwirklicht.

[1] Die Reichstagsfraktion der deutschen Sozialdemokratie 1898 bis 1918. Erster Teil, bearb. v. Erich Matthias u. Eberhard Pikart (= Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, hrsg. v. Werner Conze u. Erich Matthias, Bd. 3/I), Düsseldorf 1966, S. 311f.

Die Tabakarbeiter-Genossenschaft (TAG)

Die TAG wirbt um Unterstützung und für mehr Mitbestimmung der Tabakarbeiter

Anzeige der Tabakarbeiter-Genossenschaft in der »Volksstimme« vom 15. Februar 1914.

Anzeige der Tabakarbeiter-Genossenschaft in der »Volksstimme« vom 15. Februar 1914.

Anzeige der Tabakarbeiter-Genossenschaft in der »Volksstimme« vom 11. Februar 1914.

Anzeige der Tabakarbeiter-Genossenschaft in der »Volksstimme« vom 11. Februar 1914.

Die Tabakarbeiter-Genossenschaft (TAG) wurde 1891 durch die Initiative des Tabakarbeiters Adolph von Elm, der bereits Vorsitzender des 1885 in Hamburg gegründeten Unterstützungsvereins deutscher Cigarrensortierer war, ins Leben gerufen. Elm blieb bis zum Ende der Eigenständigkeit der TAG deren Geschäftsführer. 1909 wurde die TAG von der Großeinkaufs-Gesellschaft Deutscher Consumvereine übernommen, welche die Betriebe weiterführte. Als Produktivgenossenschaft hatte es die TAG vermocht, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: sie war über Jahre hinweg wirtschaftlich erfolgreich – mit zeitweise fast 900 Beschäftigten – und sicherte ihren Arbeitern ein Mitbestimmungsrecht zu. Allerdings konnte sie sich auf Dauer nicht gegen die privaten Zigaretten-Fabrikanten und die immer größer werdenden Trusts durchsetzen.[1]

Adolph von Elm im Jahr 1913. Von 1894 bis 1907 saß er als Abgeordneter der SPD im Reichstag. Neben seinem Engagement für die Tabakarbeiter war er auch Mitbegründer der 1913 entstandenen Volksfürsorge.

Adolph von Elm im Jahr 1913. Von 1894 bis 1907 saß er als Abgeordneter der SPD im Reichstag. Neben seinem Engagement für die Tabakarbeiter war er auch Mitbegründer der 1913 entstandenen Volksfürsorge. Quelle: Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung.

Link zur Quelle: »Volksstimme« vom 15. Februar 1914.

[1] Vgl. Adolph von Elm, Geschichte der Tabakarbeitergenossenschaft – ein Lehrstück, hrsg. v. Heinrich-Kaufmann-Stiftung des Zentralverbandes deutscher Konsumgenossenschaften e.V. u. Adolph von Elm Institut für Genossenschaftsgeschichte e.V., Norderstedt 2012 (zuerst Hamburg 1910).

»Der preussische Partikularismus und die deutsche Sozialdemokratie«

Eduard Bernstein kritisiert in den »Sozialistischen Monatsheften« die preußische Vormachtstellung im Reich

Eduard Bernstein, ca. 1919.

Eduard Bernstein, ca. 1919. Quelle: Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung.

Das politische System des Kaiserreichs zeichnete sich durch eine Vormachtstellung Preußens innerhalb des Reichs aus. Wie Eduard Bernstein in den »Sozialistischen Monatsheften« verdeutlichte, lebten drei Fünftel aller Staatsbürger in Preußen und stellten auch etwa drei Fünftel der Reichstagsabgeordneten. Während im Reich jeder männliche Bürger mit vollendetem 25. Lebensjahr wählen dürfte, galt in Preußen weiterhin das Dreiklassenwahlrecht. Das Preußische Herrenhaus war vom Adel und Großgrundbesitzern dominiert. Auf diese Missstände machte die SPD wiederholt aufmerksam. Bernstein, der schon zur Jahrhundertwende die Revisionismusdebatte innerhalb der Sozialdemokratie ausgelöst hatte, befürwortete eine Anpassung der marxistischen Theorie an die realen Begebenheiten, hin zu einem in und durch Demokratie verwirklichten Sozialismus.[1] Insofern war es für Bernstein elementar, den Parlamentarismus weiter voranzubringen und den preußischen Partikularismus zu beenden.

Link zur Quelle: »Sozialistische Monatshefte« vom 12. Februar 1914, S. 152–158.

Mehr zu Eduard Bernstein: Teresa Löwe, Der Politiker Eduard Bernstein. Eine Untersuchung zu seinem politischen Wirken in der Frühphase der Weimarer Republik (1918-1924), Bonn 2000.

[1] Vgl. zum Revisionismusstreit etwa: Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen. Deutsche Geschichte 1806–1933, Bonn 2002, S. 288ff.

Nachwahl zum Reichstag im Wahlkreis Jerichow

Sozialdemokrat Wilhelm Haupt erhält zunächst die meisten Stimmen, unterliegt aber knapp in der Stichwahl

Aufruf zur Nachwahl in der »Volksstimme« vom 10. Februar 1914.

Aufruf zur Nachwahl in der »Volksstimme« vom 10. Februar 1914.

Das Wahlsystem im Kaiserreich sah vor, dass in jedem Wahlkreis ein Abgeordneter die absolute Mehrheit der Stimmen erreichen musste, um in den Reichstag gewählt zu werden. Wurde diese Mehrheit nicht erreicht, mussten sich die beiden Kandidaten mit den meisten Stimmen einer Stichwahl stellen. So erging es auch dem Sozialdemokraten Wilhelm Haupt, Redakteur der »Volksstimme« für Magdeburg. Als kritischer Redakteur war er mehrfach zu Geld- und Gefängnisstrafen verurteilt worden. Im Dezember 1913 entzog man ihm sogar das 1912 gewonnene Reichstagsmandat. Bei der Nachwahl am 10. Februar 1914 im Regierungsbezirk Magdeburg 3 erreichte er die meisten Stimmen (12.684 Stimmen), aber nicht die absolute Mehrheit und musste in einer Stichwahl gegen den deutschkonservativen Fabrikanten Martin Schiele (12.089 Stimmen) antreten. Noch sah es nach einem Wahlsieg des Sozialdemokraten aus, zumal die Parteiführung der Fortschrittlichen Volkspartei (FVP), deren Kandidat nicht mehr an der Stichwahl teilnahm, nun bei ihren Wählern für die Unterstützung Wilhelm Haupts warb.[1] Dennoch musste sich Haupt bei der Stichwahl am 20. Februar mit 15.259 Stimmen gegen 16.625 Stimmen für Schiele geschlagen geben. Zu viele ›Freisinnige‹ hatten den Konservativen unterstützt. Das amtliche Endergebnis wurde in der »Volksstimme« vom 22. Februar abgedruckt.

Redakteur und Expedient der »Volksstimme« und von 1912 bis 1913 Mitglied des Reichstags: der Sozialdemokrat Wilhelm Haupt.

Redakteur und Expedient der »Volksstimme« und von 1912 bis 1913 Mitglied des Reichstags: der Sozialdemokrat Wilhelm Haupt. Quelle: Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung.

Link zur Quelle: »Volksstimme« vom 22. Februar 1914.

[1] Vgl. Volksstimme vom 19. Februar 1914, S. 1.