SPD-Parteivorstand ruft zur Zurückhaltung auf
Am 1. August 1914 veröffentlichten die sozialdemokratischen Zeitungen den am Vortag verfassten Aufruf des SPD-Parteivorstands. Er drückte die Abkehr von der bisherigen Friedensrhetorik aus, vor allem um die Organisation nicht zu gefährden. Die Warnung des Reichskanzlers hatte gefruchtet. Zur gleichen Zeit erschien in einigen Parteizeitungen ein Artikel von Friedrich Stampfer, der eigentlich vom Parteivorstand, insbesondere durch Einspruch Hugo Haases, zurückgerufen worden war, da er die offizielle Stellungnahme deutlich übertraf:
»Sein oder Nichtsein! Solange es die Möglichkeit gibt, den Frieden zu retten, gibt es nur eine Pflicht: für ihn zu arbeiten. In dem Augenblick aber, in dem das weltgeschichtliche Ringen beginnt – und wir wissen nicht, um wieviel Stunden wir von ihm getrennt sind – ändern sich auch die Aufgaben des deutschen klassenbewußten Proletariats. Deutschland wird dann mit einem Bundesgenossen, der mit starker Heeresmacht auf einem anderen Kriegsschauplatz festgehalten ist, gegen zwei Fronten – vielleicht obendrein noch in der Nordsee gegen England zu kämpfen haben. Das ist ein Krieg, gegen den der von 1870/71 ein Kinderspiel war. Die ungeheure Mehrheit des deutschen Volkes hat diesen Krieg nicht gewollt. Aber es gibt in Deutschland keine Partei, keine Gruppe und – wir glauben – keinen Menschen, der in diesem Krieg eine Niederlage Deutschlands will. […] Niederlage aber wäre gleichbedeutend mit Zusammenbruch, Vernichtung und namenlosem Elend für uns alle. […] Wenn die verhängnisvolle Stunde schlägt, dann werden die Arbeiter das Wort einlösen, das von ihren Vertretern für sie abgegeben worden ist. Die ›vaterlandslosen Gesellen‹ werden ihre Pflicht erfüllen und sich darin von den Patrioten in keiner Weise übertreffen lassen. […]«[1]
Der »Vorwärts«-Redakteur und Herausgeber einer von sozialdemokratischen Zeitungen oft genutzten Korrespondenz schrieb hier gegen die Ablehnung der Kriegskredite an und wollte die SPD damit vor Repressalien wie zur Zeit der ›Sozialistengesetze‹ bewahren. Die Angst davor vermischte sich mit dem patriotischen Gedanken an eine Verteidigung des Vaterlands, besonders gegen das zaristische Russland.[2] Die Kriegsschuldfrage spielte bei Stampfer keine Rolle: Er beschwor stattdessen Vernichtung und Elend im Falle einer Niederlage.[3]
Arthur Crispien, Redakteur bei der »Schwäbischen Tagwacht« in Stuttgart, hielt dazu in seinem Tagebucheintrag vom 3. August 1914 fest:
»Was wird die sozialdemokratische Reichstagsfraktion machen? Wird sie Kriegskredite ablehnen? Die Haltung der meisten einlaufenden Parteizeitungen ist würdelos und erbärmlich. Diese Blätter bringen einen Stampferartikel, so russenfeindlich und so patriotisch, dass er ruhig hätte in hurrapatriotischen bürgerlichen Zeitungen erscheinen können. Ich schäme mich solcher Sozialdemokraten.«[4]
[1] Der vollständige Artikel findet sich abgedr. in: Wolfgang Kruse, Krieg und nationale Integration. Eine Neuinterpretation des sozialdemokratischen Burgfriedensschlusses 1914/15, Essen 1994, S. 240f., Anm. 206 (Hervorhebungen wie dort). Vgl. dazu auch Philipp Scheidemann, Memoiren eines Sozialdemokraten, Bd. 1, Dresden 1928, S. 239ff.
[2] Vgl. Kruse, Krieg und nationale Integration, S. 62.
[3] Vgl. ebd., S. 69.
[4] 1/ACAA000006, Nachlass Arthur Crispien, Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung.
Link zur Quelle: »Lübecker Volksbote« vom 1. August 1914.
Wie das Beispiel Crispien zeigt, waren die Sozialdemokraten tief gespalten in ihrer Haltung. Aber ein Großteil ging, wie auch die bürgerliche Opposition, doch davon aus, dass die eigene Regierung sich hinter den Kulissen um Vermittlung bemüht hatte, damit gescheitert war und deswegen kein Mittel mehr hatte, das Ruder herumzureißen. Dass Dtl. tatsächlich alle Vermittlungsbemühungen der anderen abgewehrt hatte, konnte sich eigentlich niemand vorstellen, es sei denn er befand sich bereits vor der Krise in einer solchen Radikal-Opposition zur eigenen Reg., dass er ihr grundsätzlich nur das Schlechteste zutraute.
Der Stimmungsumschwung wird – auch im linksliberalen Lager – am 2. August noch heftiger, als der Bevölkerung vorgelogen wird, Russland habe durch Angriffe in Ostpreußen den Krieg eröffnet – der in Wahrheit bereits von Dtl. erklärt worden war. Am 3. August werden dann längst widerlegte Gerüchte über französische Bombenabwürfe und Brunnenvergiftungen als amtlich bestätigte Nachrichten verbreitet, wonach die Artikel der vormals oppositionellen Zeitungen sich teilweise wirklich nicht mehr von übelster rechter Hetze unterscheiden.
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