Der geplante schnelle Vorstoß im Westen scheitert
Dem überarbeiteten Schlieffen-Plan folgend, waren deutsche Soldaten am 4. August 1914 in das neutrale Belgien einmarschiert. Der Plan der Militärs, ohne größeren Widerstand durch das Land zu marschieren und Festungsanlagen, wie bei Lüttich, handstreichartig einzunehmen, hatte sich als Illusion entpuppt. Noch am 8. August schrieb Karl Kautsky für »Die Neue Zeit«:
»Indessen, so wenig sich heute über die Aussichten des Ringens und die Art seines Abschlusses sagen läßt, so darf man doch eines schon jetzt mit voller Sicherheit voraussagen: die Welt wird nach diesem Kriege ganz anders aussehen als heute. Wir hoffen und dürfen erwarten, daß er relativ kurz sein wird.«[1]
Die in weiten Teilen der Bevölkerung herrschende Erwartung eines zwar heftigen, aber kurzen Kriegsverlaufs[2], wurde mit jeder Nachricht von den Kriegsschauplätzen und jeder Verlustliste geschmälert. Mit der Eisenbahn, die die gewaltigen Truppenbewegungen zur Front ermöglichte, kamen jetzt neben ersten Kriegsgefangenen auch Hunderte verwundete Soldaten zurück. Es verfestigte sich die Einsicht, dass sich der Krieg länger hinziehen würde als erhofft. In einem Brief an Kautsky schrieb Eduard Bernstein am 16. August 1914:
»Lieber Kautsky, […] Es sieht fast so aus, als ob der Kriegsplan der deutschen Heeresleitung an einem Punkt nicht geklappt hat und nun geändert wird. Ich glaube an keine ernsthafte Niederlage der deutschen Truppen auf dem Schlachtfeld, aber mit raschen Siegen à la 1870 scheint es nicht gehen zu wollen. Es giebt ein wüthendes Morden, das, wenn Vermittlungsaktionen nicht eingreifen, in der Tat zu revolutionären Erhebungen führen kann. Beste Grüße Dein Ed. Bernstein«[3]
[1] Karl Kautsky, Der Krieg, in: Die Neue Zeit vom 21. August 1914, S. 843–846, hier: S. 844.
[2] Vgl. zu den Kriegsvorstellungen im Juli 1914: Gerd Krumeich, Juli 1914. Eine Bilanz, Paderborn/München etc. 2014, S. 50ff. und 185.
[3] Eva Bettina Görtz (Hrsg.), Eduard Bernsteins Briefwechsel mit Karl Kautsky (1912–1932) (= Quellen und Studien zur Sozialgeschichte, hrsg. v. Internationalen Institut für Sozialgeschichte, Amsterdam, Bd. 22), Frankfurt am Main/New York 2011, S. 22f.
Link zur Quelle: »Lübecker Volksbote« vom 15. August 1914.