Rüstungswahnsinn

Deutschland setzt sich vor Russland und England an die Spitze der Wettrüster

Bericht des»Lübecker Volksboten« vom 7.Juli 1914.

Bericht des »Lübecker Volksboten« vom 7. Juli 1914.

In den Jahren vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs hatte sich in Europa eine regelrechte Spirale des Wettrüstens entwickelt: Die eigene Aufrüstung wurde dabei von Militärs und Politikern stets mit dem Blick auf die Rüstungen der anderen Mächte begründet. Die Partei, aus der deutlich kritische Stimmen gegen diese Entwicklung zu hören waren, war die Sozialdemokratie. Allerdings gab es diesbezüglich höchst unterschiedliche Ansichten. In der Praxis wurde der Antimilitarismus anderen innenpolitischen Zielen untergeordnet: 1913 hatte die SPD-Reichstagsfraktion eine Regierungsvorlage der bürgerlichen Parteien zur massiven Vergrößerung des Heeres abgelehnt, der finanziellen Deckungsvorlage in der Hoffnung auf eine direkte Besteuerung mit Hauptlast bei den Besitzenden allerdings zugestimmt.[1] Hierbei spielte zudem der Gedanke an eine abschreckende Wirkung auf Russlands Machthaber eine Rolle.[2] Die Aufrechterhaltung des militärischen Kräftegleichgewichts durch den Ausbau der eigenen Kriegsfähigkeit war für die großen europäischen Staaten leitendes Prinzip. Vor allem in Deutschland, Frankreich und Russland waren die Militärausgaben seit 1911 immens gewachsen, in Großbritannien – welches als einzige Großmacht noch keine Wehrpflicht eingeführt hatte – blieben sie dagegen relativ konstant.[3]

Während man bei Rüstungsausgaben geteilter Meinung war, sah die Sozialdemokratie in der Militarisierung der Gesellschaft, insbesondere der Jugend, eine große Gefahr für Kultur und Frieden. Karikatur aus »Der Wahre Jacob« vom 18. April (Mai-Nummer), Nr. 724, S. 8306.

Während man bei Rüstungsausgaben geteilter Meinung war, sah die Sozialdemokratie in der Militarisierung der Gesellschaft, insbesondere der Jugend, eine große Gefahr für Kultur und Frieden. Karikatur aus »Der Wahre Jacob« vom 18. April (Mai-Nummer), Nr. 724, S. 8306.

[1] Vgl. Wolfgang Kruse, Krieg und nationale Integration. Eine Neuinterpretation des sozialdemokratischen Burgfriedensschlusses 1914/15, Essen 1994, S. 27.
[2] Vgl. Dieter Groh, Negative Integration und revolutionärer Attentismus. Die deutsche Sozialdemokratie am Vorabend des Ersten Weltkrieges, Frankfurt am Main/Berlin etc. 1973, S. 432.
[3] Vgl. Jörn Leonhard, Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs, München 2014, S. 20 und 40.

Link zur Quelle: »Lübecker Volksbote« vom 7. Juli 1914.

Kneipengespräche

Arbeiter diskutieren über das Attentat von Sarajevo

Am 4. Juli 1914 besuchte ein als Arbeiter verkleidetes Mitglied der Politischen Polizei Hamburgs die Wirtschaft von Heinrich Ohlmeier in der Tunnelstraße 50 in Veddel. Insgesamt sechs Polizisten hatten die Aufgabe, täglich die Hafen- und Arbeiterviertel der Hansestadt aufzusuchen, um die Meinung der Arbeiterschaft zu ergründen.[1] Der Beamte mit dem Namen Szymanski notierte den Dialog von vier Arbeitern, die sich über das Attentat von Sarajevo unterhielten. Nachdem einer von ihnen den Umgang Österreich-Ungarns mit Serbien kritisiert hatte und ein anderer die anarchische Veranlagung der Serben als Ursache vermutete, sagte ein Dritter: »Na! Aus diesem Brandloch wird doch noch ein europäischer Krieg entstehen, denn die Großmächte können ihre Finger nicht davon lassen, und jede Großmacht möchte aus dem Wirrwarr etwas für sich heraushaben.«[2] In der Führungsspitze der SPD und der freien Gewerkschaften dachte man zu diesem Zeitpunkt ähnlich. Zwar sah man durch das Attentat den Frieden zunehmend bedroht, konkrete Maßnahmen gegen den Krieg wurden aber noch nicht erwogen.[3]

Die möglichen Folgen des Attentats wurden in der sozialdemokratischen Presse Anfang Juli intensiv thematisiert, danach bestimmten jedoch recht schnell wieder andere Themen die Berichterstattung. Ausschnitt des Titelblatts der »Volksstimme« (Magdeburg) vom 1. Juli 1914.

Die möglichen Folgen des Attentats wurden in der sozialdemokratischen Presse Anfang Juli intensiv thematisiert, danach bestimmten jedoch recht schnell wieder andere Themen die Berichterstattung. Ausschnitt des Titelblatts der »Volksstimme« (Magdeburg) vom 1. Juli 1914.

[1] Richard J. Evans (Hrsg.), Kneipengespräche im Kaiserreich. Stimmungsberichte der Hamburger Politischen Polizei 1892–1914, Hamburg 1989, S. 13f.
[2] Ebd., S. 414f.
[3] Vgl. Wolfgang Kruse, Krieg und nationale Integration. Eine Neuinterpretation des sozialdemokratischen Burgfriedensschlusses 1914/15, Essen 1994, S. 29.

Link zur Quelle: »Volksstimme« (Magdeburg) vom 1. Juli 1914.

»Aus russischen Kerkern«

Ernst Reuter hält Vortrag zur Folter politischer Gefangener in Russland

Karikatur zur Folter in Russland aus »Der Wahre Jacob« vom 1. Mai 1914, Nr. 725, S. 8321.

Karikatur zur Folter in Russland aus »Der Wahre Jacob« vom 1. Mai 1914, Nr. 725, S. 8321.

Russland galt für viele Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten als die reaktionärste Kraft in Europa. Im Zarenreich wurden politische Gegner massiv unter Druck gesetzt. Der 24-jährige Ernst Reuter, seit 1912 SPD-Mitglied, machte als Wanderredner auf die Situation der politischen Gefangenen aufmerksam. Auf seiner Vortragsreise durch das Kaiserreich veranschaulichte er anhand von Lichtbildern die Verfolgungen: man sah Massenverhaftungen, in Brand gesetzte Dörfer, Kerkerbilder, ausgepeitschte Inhaftierte und Leichen von Selbstmördern, die im Suizid den letzten Ausweg gesehen hätten.[1] Nachdem er zuvor schon in Berlin, Frankfurt am Main, München und Breslau vor großem Publikum gesprochen hatte, besuchte er am 3. Juli 1914 Lübeck. Der Überschuss des Kartenerlöses sollte dem 1913 gegründeten »Deutschen Hilfsverein für die politischen Gefangenen und Verbannten Rußlands« zufließen. In ihm engagierten sich neben vielen Bürgerlichen auch Sozialdemokraten, etwa Eduard Fuchs und Karl Liebknecht. Ziel des Vereins war die Beweisführung und das Publizieren der russischen Repressionen.

Bekanntmachung zur Volksversammlung im »Lübecker Volksboten« vom 2. Juli 1914.

Bekanntmachung zur Volksversammlung im »Lübecker Volksboten« vom 2. Juli 1914.

[1] Vgl. Aus russischen Kerkern, in: »Volkswacht« für Schlesien, Posen und die Nachbargebiete vom 30. Juni 1914.

Link zur Quelle: »Lübecker Volksbote« vom 2. Juli 1914.

Soldatenmisshandlungen

Rosa Luxemburg steht erneut vor Gericht

Rosa Luxemburg als Richterin über den Militarismus. Karikatur aus »Der Wahre Jacob« vom 25. Juli 1914, Nr. 731, S. 8417.

Rosa Luxemburg als Richterin über den Militarismus. Karikatur aus »Der Wahre Jacob« vom 25. Juli 1914, Nr. 731, S. 8417.

Weil sie im März auf einer Veranstaltung in Freiburg im Breisgau behauptet hatte, Soldatenmisshandlungen seien in den Kasernen des Reiches alltäglich, saß Rosa Luxemburg am 29. Juni 1914 erneut auf der Anklagebank. Kriegsminister Erich von Falkenhayn hatte wegen Beleidigung sämtlicher Offiziere und Unteroffiziere Strafantrag gestellt. Im Vorfeld des Prozesses wurden in der sozialdemokratischen Presse Aufrufe zur Zeugensuche veröffentlicht. Das hatte großen Erfolg. Zahlreiche Reservisten berichteten von Prügelstrafen und Schikanen seitens der Befehlshaber. Diese reichten von Backpfeifen über befohlenes Stubenschrubben mit der Zahnbürste bis zu schweren körperlichen Verletzungen durch Schläge.[1] Da es sich bei Luxemburgs Behauptung um die Häufigkeit der Taten drehte, vermochte es die Gegenseite nicht, die Beweisaufnahme einzuschränken. Allein zur Präzisierung des Themas hatte die Verteidigung 50 Zeugen aufgerufen.[2] So gelang es, den von Falkenhayn angedachten Prozessverlauf umzukehren: Der wirkliche Angeklagte war nun das Militär. Um dessen Ansehen nicht zu gefährden, wurde der Prozess auf unbestimmte Zeit vertagt.

Zeugenaufruf in der »Volkswacht« (Westpreußen) vom 9. Juni 1914.

Zeugenaufruf in der »Volkswacht« (Westpreußen) vom 9. Juni 1914.

[1] Vgl. Zeugenaussagen im »Lübecker Volksboten« vom 1. Juli 1914.
[2] Vgl. Der Prozess Luxemburg, in: »Lübecker Volksbote« vom 3. Juli 1914.

Links zu den Quellen: »Volkswacht« (Westpreußen) vom 9. Juni 1914 und Bericht zur Vertagung der Verhandlung im »Lübecker Volksboten« vom 6. Juli 1914.

Zur Rede in Freiburg im Breisgau: Rosa Luxemburg, Reden, hrsg. v. Günter Radczun, Leipzig 1976, Kap. 49, digitalisiert von Projekt Gutenberg-DE.

9. Kongress der Gewerkschaften in München

Delegierte beraten über Maßnahmen gegen äußere Anfeindungen

Ankündigung zum Gewerkschaftskongress in der »Solidarität« vom 28. März 1914.

Ankündigung zum Gewerkschaftskongress in der »Solidarität« vom 28. März 1914.

Vom 22. bis zum 27. Juni 1914 trafen sich 448 Delegierte im Saal der Münchner Kindl-Brauerei zum 9. Gewerkschaftskongress. Hauptthema des Treffens waren die zahlreichen Angriffe seitens der Obrigkeit. Insbesondere die Einstufung von Gewerkschaftsorganisationen als »politische Vereine« erlaubte es den Behörden, mithilfe des restriktiven Reichsvereinsgesetzes Kundgebungen und Zusammenkünfte zu verbieten oder unter strenge Auflagen zu stellen. Die Vertreter der über zweieinhalb Millionen Mitglieder berieten auch über die Frage, welcher Beruf welcher Gewerkschaft zuzuordnen sei. Diese hatte wiederholt zu Unklarheiten und Streitigkeiten zwischen den einzelnen Organisationen geführt. Dem Wunsch des langjährigen Vorsitzenden der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands Carl Legien folgend, wurde auch diesbezüglich ein stärkerer Zusammenhalt vereinbart.[1]

Vorsitzender Carl Legien auf »Studienfahrt« nach Amerika, ca. 1912. Quelle: Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung.

Vorsitzender Carl Legien auf »Studienfahrt« nach Amerika, ca. 1912. Quelle: Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung.

[1] Vgl. Eintrag zum 22. Juni 1914, in: Franz Osterroth/Dieter Schuster, Chronik der deutschen Sozialdemokratie. Electronic ed., Bd. 1: Bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, Bonn 2001. Vgl. auch Carl Legien, Zum Deutschen Gewerkschaftskongress 1914, in: Sozialistische Monatshefte, 1914, H. 12/13, S. 725–729 und Robert Schmidt, Rückblick auf den Münchener Gewerkschaftskongress, in: Sozialistische Monatshefte, 1914, H. 14, S. 885–887.

Link zur Quelle: »Solidarität« vom 28. März 1914.