Schluss der Reichstagssession

SPD-Abgeordnete bleiben beim Hoch auf den Kaiser sitzen

Am 4. Februar 1914 hatte die SPD-Reichstagsfraktion beschlossen, beim traditionellen ›Kaiserhoch‹ zum Schluss jeder Reichstagssession im Saal zu bleiben und sich nicht zu erheben. Als am Mittag des 20. Mai der Ruf »Seine Majestät der Deutsche Kaiser, Wilhelm II., König von Preußen, lebe hoch! – hoch! – hoch!« ausgerufen wurde, erhoben sich die Abgeordneten von ihren Sitzen und stimmten in den Hochruf mit ein – alle außer den Sozialdemokraten. Der Reichstagspräsident Johannes Kaempf ging darauf ein und äußerte sein Bedauern. Schließlich schulde jeder Deutsche dem Kaiser Achtung, die so zum Ausdruck gebracht werde.[1]
Für Hermann Molkenbuhr, seit 1911 Vorsitzender der SPD-Reichstagsfraktion, war der Entschluss seiner Genossen nicht nachvollziehbar. In seinem Tagebuch schrieb er, durch die Änderung der bisherigen Praxis, entweder den Saal zu verlassen oder sich zu erheben, hätten »die alten Führer [August] Bebel und [Paul] Singer Fußtritte« erhalten.[2] Für ihn war das Sitzenbleiben kein radikaleres Vorgehen, sondern der »erste Schritt zur Beteiligung«. Die Voraussage Molkenbuhrs sollte sich bald bewahrheiten: Am 4. August 1914, unmittelbar nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs, erhob sich der gesamte Reichstag zu Ehren des Kaisers.[3]

Hermann Molkenbuhr um 1913. Quelle: Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung.

Hermann Molkenbuhr um 1913. Quelle: Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung.

[1] Reichstagsprotokolle, 264. Sitzung, Mittwoch den 20. Mai 1914, S. 9171, URL: <http://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt_k13_bsb00003391_00621.html>.
[2] Bernd Braun/Joachim Eichler (Hrsg.), Arbeiterführer – Parlamentarier – Parteiveteran. Die Tagebücher des Sozialdemokraten Hermann Molkenbuhr 1905 bis 1927, München 2000, S. 222f.
[3] Ebd., insb. Anmerkung 11.