›Kaiserhoch‹

SPD-Fraktion beschließt einen anderen Umgang mit höfischer Tradition im Reichstag

Die SPD-Reichstagsfraktion im Jahr 1914. Seit den Wahlen von 1912 war sie die mitgliederstärkste Fraktion im Reichstag.

Die SPD-Reichstagsfraktion im Jahr 1914. Seit den Wahlen von 1912 war sie die mitgliederstärkste Fraktion im Reichstag. Quelle: Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung.

In ihrer Fraktionssitzung am 4. Februar 1914 beschloss die Reichstagsfraktion der SPD mit einer knappen Mehrheit von 50 zu 47 Stimmen, sich in Zukunft beim ›Kaiserhoch‹ nicht von den Sitzen zu erheben. Die vorherige Praxis, den Saal vor der Ehrerbietung gegenüber dem Kaiser zum Schluss einer jeden Reichstagssession zu verlassen oder daran teilzunehmen, sollte nun einem demonstrativeren Verhalten weichen. Der Beschluss wurde vorläufig nicht veröffentlicht und als Fraktionsgeheimnis angesehen.[1] Als dann am 20. Mai 1914 tatsächlich alle anwesenden SPD-Abgeordneten auf ihren Plätzen blieben, löste das öffentliche und interne Debatten aus. Innerhalb der Sozialdemokratie wurde diskutiert, ob das ›Kaiserhoch‹ als Überbleibsel höfischer Tradition abzulehnen oder als Ausdruck staatsrechtlichen Verständnisses und Respekt gegenüber dem Präsidenten des Deutschen Reichs zu befürworten sei.[2] Seit der Zabern-Affäre spitzte sich das Verhältnis zwischen Reichstag und Kaiser generell zu. Kaiser Wilhelm II. hatte am 27. Januar 1914 zu seinem 55. Geburtstag das Präsidium des Reichstags wie üblich empfangen, die Glückwünsche jedoch im Gegensatz zu den Vorjahren wortlos entgegengenommen und dem Parlament keine Grüße ausgerichtet. In den Augen vieler Abgeordneter hatte er den Reichstag damit durch Nichtachtung abgestraft.

[1] Die Reichstagsfraktion der deutschen Sozialdemokratie 1898 bis 1918. Erster Teil, bearb. v. Erich Matthias u. Eberhard Pikart (= Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, hrsg. v. Werner Conze u. Erich Matthias, Bd. 3/I), Düsseldorf 1966, S. 310.

[2] Vgl. dazu: Wolfgang Heine, Kaiserhoch, in: Sozialistische Monatshefte, 1914, H. 11, S. 651–654 und Edmund Fischer, Der deutsche Reichstag, in: ebd., S. 655–659.