SPD-Reichstagsfraktion lässt sich vom Verteidigungskrieg überzeugen
Philipp Scheidemann war am 3. August 1914 für 12 Uhr Mittags mit dem Parteivorsitzenden Hugo Haase zu einer Besprechung mit Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg geladen worden. An der Besprechung nahmen auch Vertreter der anderen Reichstagsparteien und Staatssekretär Clemens Delbrück teil:
»Wir sprachen zunächst in zwangloser Weise, ohne Platz zu nehmen, über die Vorlagen, die in Verbindung mit der Kreditvorlage angenommen werden sollten. Der Reichskanzler hielt uns dann die Rede, die er am nächsten Tage im Reichstage vortrug; hier und da flocht er mehr oder weniger vertrauliche Bemerkungen ein. Je näher er zum Schluß kam, um so bewegter wurde er; er wußte vor Aufregung nicht, wo er mit den langen Armen hin sollte. Zeitweilig schlug er mit beiden Fäusten auf den Tisch. Geradezu tonlos war seine Stimme geworden, als er sagte: ›Mein Gewissen ist rein!‹«[1]
Der Reichskanzler hatte zudem durchblicken lassen, dass die Regierung vergeblich versucht habe, den Frieden zu bewahren, und dass sie die Sozialdemokratie und deren Presse unangetastet lasse, sofern diese nichts gegen ihre Maßnahmen unternehme.[2] Bethmann Hollweg verdeutlichte so die scheinbar ohne eigenes Zutun auferlegte Notwendigkeit zum Krieg – nicht ohne durch den Verweis auf Repressalien auch eine indirekte Drohung zu übermitteln.
Nachmittags beriet die SPD-Reichstagsfraktion ihr Verhalten für den nächsten Tag, an dem im Reichstag über die ersten Kriegskredite abgestimmt werden sollte. Während der intensiven Debatte traf Hermann Müller aus Paris ein und berichtete, dass die französischen Sozialisten im Falle eines Angriffs Deutschlands das französische Kriegsbudget unterstützen würden. Unter diesen Eindrücken wurde die Diskussion fortgesetzt, bei deren Ende 78 Abgeordnete für die Bewilligung stimmten. Hauptargument der Befürworter war, dass sich die Sozialdemokratie entgegen aller Anfeindungen ihrer Gegner durchaus in der Pflicht sah, ihr Vaterland zu verteidigen.[3] Die maßgeblich von Eduard David vertretene reformistische Linie hatte sich durchgesetzt. Nur etwa 14 Abgeordnete stimmten dagegen.[4] Unter den Gegnern waren Haase, Georg Ledebour und Karl Liebknecht. Des Weiteren wurde beschlossen, von einer Debatte im Reichstagsplenum abzusehen und stattdessen den eigenen Standpunkt in einer Erklärung darzulegen.[5] Dass diese Entscheidung gegenüber der Parteibasis und der Öffentlichkeit erklärungsbedürftig war, resultierte nicht nur aus dem Umschwenken von Friedensrufen zur Bewilligung, sondern auch aus der inneren Unsicherheit Vieler über deren Tragweite.
Neben Friedrich Ebert Vorsitzender der SPD: Porträt Hugo Haases aus dem Jahr 1912. Quelle: Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung.
[1] Philipp Scheidemann, Memoiren eines Sozialdemokraten, Bd. 1, Dresden 1928, S. 250.
[2] Vgl. Das Kriegstagebuch des Reichstagsabgeordneten Eduard David 1914 bis 1918, bearb. v. Susanne Miller (= Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien. Erste Reihe: Von der konstitutionellen Monarchie zur parlamentarischen Republik, hrsg. v. Werner Conze u. Erich Matthias, Bd. 4), Düsseldorf 1966, S. 7.
[3] Vgl. Scheidemann, Memoiren, S. 252ff.
[4] Die Angaben zu den Gegenstimmen weichen in den Quellen voneinander ab. Übereinstimmend werden genannt: Albrecht, Antrick, Bock, Geyer, Haase, Henke, Herzfeld, Ledebour, Lensch, Liebknecht, Rühle, Vogtherr. Außerdem von Eduard David: Kunert und Raute; von Eugen Prager: Peirotes und der nicht anwesende Emmel, der sich im Nachhinein dagegen aussprach; von Paul Frölich: Kunert und Peirotes. Heinrich Ströbel, Die Kriegsschuld der Rechtssozialisten, Berlin 1919, S. 12, berichtet ohne Namensnennung von 16 Gegenstimmen. Vgl. Die Reichstagsfraktion der deutschen Sozialdemokratie 1898 bis 1918. Zweiter Teil, bearb. v. Erich Matthias u. Eberhard Pikart (= Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, hrsg. v. Werner Conze u. Erich Matthias, Bd. 3/II), Düsseldorf 1966, S. 3, insb. Anm. 4.
[5] Vgl. ebd., S. 3f.