Mitglieder des Internationalen Sozialistischen Büros erwägen den Hauptsitz zu verlegen, andere möchten die SPD ausschließen
Am 17. Oktober 1914 besuchte der niederländische Sozialist Pieter Jelles Troelstra den Parteivorstand der SPD, um mit diesem über die Verlegung des Sitzes des Internationalen Sozialistischen Büros (ISB) von Brüssel nach Den Haag zu verhandeln. Troelstra hatte diesbezüglich bereits mit skandinavischen Sozialisten korrespondiert und plante nach seinem Besuch in Deutschland, die schwedischen und die schweizer Genossinnen und Genossen aufzusuchen. Letztere hatten gemeinsam mit den Italienern Bern als Alternative vorgeschlagen. Im Falle einer Verlegung des Sitzes in die Schweiz befürchtete Otto Braun jedoch, dass das ISB eine reine »Filiale« der französischen Sozialisten werde. Schon die im Namen des ISB von belgischen und französischen Sozialisten erhobenen Vorwürfe einer deutschen Kriegsschuld hatten die SPD-Führung verärgert. Nun waren zudem noch Äußerungen belgischer Sozialisten bekannt geworden, die Deutschen seien allesamt Verbrecher und Dummköpfe und die SPD solle aus der Internationale ausgeschlossen werden.
Der Angliederung des ISB an die niederländische Partei stimmte man seitens des SPD-Parteivorstands für die Dauer des Kriegs zu. Das Vorhaben Troelstras, möglichst bald eine Friedenskonferenz abzuhalten, wurde kritischer bewertet.[1] Das Festhalten am Burgfrieden und die Verpflichtung gegenüber der eigenen Nation überwogen. Ähnlich dachte man in Frankreich. Jean Longuet schrieb am 19. Oktober in der »L’Humanité«, dass ein Kongress unter den derzeitigen Bedingungen verfrüht wäre. Zunächst müsse – nach all dem vergossenen Blut und den Tränen – eine Entscheidung erfochten werden.[2]
Otto Braun vertraute seinen Tagebuchaufzeichnungen seine Skepsis gegenüber Troelstras Einschätzung der Situation an:
»Ich kann auch Tr.[oelstra] in der Beurteilung dessen, was nach dem Kriege kommt, nicht zustimmen. Er meint, ein entscheidender Sieg wäre uns deshalb nicht zu wünschen, weil er den deutschen Imperialismus und Militarismus zu sehr stärken würde, eine Niederlage Deutschlands sei aber im Interesse des deutschen Proletariats noch weniger erwünscht. Am günstigsten wäre eine unentschiedene Sachlage, die einen Kompromissfrieden zeitigt und weiter eine innerparlamentarische Konferenz auslöst, die die allgemeine Abrüstung anzubahnen hätte, die dann nach der Schwächung aller Nationen nach den grossen Verlusten Aussicht auf Erfolg hätte. Ob in den anderen kriegführenden Ländern die Hoffnungen Troelstras Aussicht auf Verwirklichung haben, kann ich nicht beurteilen. In Deutschland, glaube ich aber, würde so ein unentschiedener Ausgang des Krieges, so ein Versumpfen nichts weiter als einen latenten Kriegszustand zur Folge haben. Nicht abrüsten, sondern ein noch wahnsinnigeres Wettrüsten als bisher würde einsetzen, um die ausgebliebene Entscheidung nach einigen Jahren in einem noch entsetzlicheren Kriege zu erzwingen.«[3]
[1] Vgl. zum gesamten oberen Abschnitt den Eintrag vom 17. Oktober 1914, Otto Braun, Tagebuch, S. 58f., Nachlass Otto Braun, Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung.
[2] Vgl. Parteiangelegenheiten, in: »Volkswacht« für Schlesien, Posen und die Nachbargebiete vom 29. Oktober 1914.
[3] Eintrag vom 17. Oktober 1914, Otto Braun, Tagebuch, S. 60 (Unterstreichung im Original).