Kriegsschuld

Belgische und französische Sozialisten klagen Deutschland als Friedensbrecher an

Trotz der Versuche, die Genossinnen und Genossen in den Nachbarländern von der schwierigen Position der deutschen Sozialdemokratie zu überzeugen und um Nachsicht in der Berichterstattung zu bitten, veröffentlichten belgische und französische Sozialisten im Namen des Internationalen Sozialistischen Büros einen Aufruf »An das Deutsche Volk«, der das Deutsche Reich als Aggressor des Kriegs benannte und die Verbrechen gegen die belgische Zivilbevölkerung anklagte. Dieser wurde zuerst in niederländischen Zeitungen abgedruckt und sollte als Flugblatt über den deutschen Truppen abgeworfen werden.[1] Davon erfuhr der SPD-Parteivorstand Anfang des Monats und verfasste am 9. September 1914 eine Gegendarstellung:9.9. Kriegsschuld_Aufruf gegen ISB 1_Luebecker Volksbote 11.9._Sozialdemokratie1914

Die Gegendarstellung des SPD-Parteivorstands aus dem »Lübecker Volksboten« vom 11. September 1914.

Die Gegendarstellung des SPD-Parteivorstands aus dem »Lübecker Volksboten« vom 11. September 1914.

Nach Versenden der Gegendarstellung appellierte der Parteivorstand an die sozialdemokratischen Zeitungen, den Aufruf der Belgier und Franzosen nicht mit abzudrucken. Dem folgten nicht alle Blätter: Die »Schwäbische Tagwacht« und deren Redakteur Arthur Crispien, welcher mit Rosa Luxemburg und Clara Zetkin in der Ablehnung des Parteikurses übereinstimmte und sich mit ihnen austauschte, hatte beide Aufrufe abgedruckt.[2] Eduard David, der die innerparteiliche Opposition gegen den Krieg um Luxemburg, Zetkin, Karl Liebknecht, Georg Ledebour und den Vorsitzenden Hugo Haase misstrauisch verfolgte, hatte am 2. September notiert:

»Deutschland wird darin [im vom ISB unterzeichneten Aufruf] als der Friedensbrecher, die Franzosen und Belgier als Kämpfer für Demokratie und Freiheit hingestellt. Unser Kampf gegen den russischen Despotismus und das Bündnis der Westmächte mit ihm bleiben unerwähnt. Der deutsche Parteivorstand will eine geharnischte Gegenkundgebung loslassen. – Haases Stellung im Parteivorstand erscheint immer isolierter. – Ich vermute, daß die Franzosen und Belgier von Rosa Luxemburg usw. angestachelt worden sind.«[3]

[1] Vgl. Das Kriegstagebuch des Reichstagsabgeordneten Eduard David 1914 bis 1918, bearb. v. Susanne Miller (= Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien. Erste Reihe: Von der konstitutionellen Monarchie zur parlamentarischen Republik, hrsg. v. Werner Conze u. Erich Matthias, Bd. 4), Düsseldorf 1966, S. 30f.
[2] Tagebucheintrag vom 12.9.1914, 1/ACAA000006, Nachlass Arthur Crispien, Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung.
[3] Vgl. Das Kriegstagebuch des Reichstagsabgeordneten Eduard David, S. 31.

Link zur Quelle: »Lübecker Volksbote« vom 11. September 1914.