Spionagefurcht

Nationalistische Übergriffe und Angst vor Sabotageakten im Deutschen Reich3.8. Spionagefurcht_Volkswacht (Breslau) 1_Sozialdemokratie1914

Spionagefälle und Hetze gegen Sozialdemokraten – Meldungen der »Volkswacht« für Schlesien, Posen und die Nachbargebiete vom 3. August 1914.

Spionagefälle und Hetze gegen Sozialdemokraten – Meldungen der »Volkswacht« für Schlesien, Posen und die Nachbargebiete vom 3. August 1914.

Die sich seit Ende Juli zuspitzende Ausnahmesituation im Angesicht eines Weltkriegs führte nicht nur zu Jubelrufen oder Besorgnis seitens der Bevölkerung; es entstand nicht nur jenes oft als »Augusterlebnis« bezeichnete nationale Einheitsgefühl, sondern in manchen Städten auch ein von Verdächtigungen, Schmähungen und Selbstjustiz geprägtes Klima. Davon waren vor allem ausländische Personen aber auch Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten betroffen. Arthur Crispiens Aufzeichnungen vom 3. August 1914 zeichnen ein chaotisches Bild der Entwicklung in Stuttgart und zeigen auf, wie zerrissen selbst die Anhänger der Sozialdemokratie waren:

»Im Metallarbeiterheim schimpfen Gewerkschaftsbeamte auf mich: ich solle mich auf einen Zaun stellen und zum Massenstreik auffordern. Auch Sozialdemokraten! Ich empfinde Scham und Ekel vor solchen Burschen.
In der Stadt sind die Menschen vor Spionagefurcht verrückt.
Menschen werden unschuldigerweise halbtot geschlagen. Männer und Frauen werden überfallen, wenn sie ›fremd‹ aussehen.
Der Hurrapöbel ist von Spionenwüterichen abgelöst.
Bei der Genossin Zetkin war gestern früh um 5 Uhr Haussuchung.
Sie soll Russen beherbergen und mit Russen korrespondieren.
Tag und Nacht stehen bewaffnete Bürger aus Sillenbuch vor dem Hause der Genossin Zetkin Wache. […]
[Die Zeitschriften] Jakob und Gleichheit sind konfisziert worden.
Nachts: Ein Scheinwerfer sucht den Himmel nach Luftschiffen ab.
Zwischen 11 und 12 fallen etwa 20 Schüsse. […]«[1]
Clara Zetkin hatte selbst in einem Brief über die Durchsuchung berichtet. Ausschnitt aus dem Brief Clara Zetkins vom 2. August 1914 wegen Verlegung der Internationalen Konferenz der Sozialistischen Frauen und Arbeiterinnenorganisationen.

Clara Zetkin hatte selbst in einem Brief über die Durchsuchung berichtet. Ausschnitt aus dem Brief Clara Zetkins vom 2. August 1914 wegen Verlegung der Internationalen Konferenz der Sozialistischen Frauen und Arbeiterinnenorganisationen.

In den folgenden Tagen wurde Crispien, der eine weitere Agitation für den Frieden befürwortete, mehrfach durch Zurufe oder anonyme Briefe mit dem Tod gedroht. Erst am 8. August nahm er eine Entspannung der Lage wahr:

»Die Stuttgarter Bevölkerung scheint im allgemeinen von ihrer geistigen Krankheit (Spionitis) geheilt zu sein. Es ist wieder möglich, ohne Lebensgefahr durch die Stadt zu gehen«.[2]
Arthur Crispien (rechts) zusammen mit Wilhelm Dittmann beim Parteitag der USPD in Leipzig am 30. November 1919. Quelle: Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung.

Arthur Crispien (rechts) zusammen mit Wilhelm Dittmann beim Parteitag der USPD in Leipzig am 30. November 1919. Quelle: Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung.

[1] 1/ACAA000006, Nachlass Arthur Crispien, Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung.
[2] Ebd.

Links zu den Quellen: »Volkswacht« für Schlesien, Posen und die Nachbargebiete vom 3. August 1914 und Brief Clara Zetkins vom 2. August 1914 wegen Verlegung der Internationalen Konferenz der Sozialistischen Frauen und Arbeiterinnenorganisationen.