Sozialdemokratische Presse nimmt Jagdvorliebe Kaiser Wilhelms II. auf die Schippe
Die ›standesgemäßen‹ Vorlieben des Kaisers, wie die Jagd, waren weit von der Lebenswirklichkeit der Arbeiterinnen und Arbeiter entfernt. Aus Sicht einer Arbeiterfamilie, die sich tagtäglich abmühte, genug zu Essen auf dem Tisch zu haben, musste das Erlegen von 4.006 Wildtieren in einem Jahr zum bloßen Zeitvertreib höchst verschwenderisch wirken. Obwohl Wilhelm II. durch seine Eigenarten, Reden und nicht zuletzt die Daily-Telegraph-Affäre den Spott der Presse auf sich gezogen hatte, fungierte er für weite Teile der Bevölkerung noch immer als nationaler Identitätspunkt. Das galt auch für manchen Anhänger der Sozialdemokratie, in deren Reihen durchaus ambivalent über den Kaiser gesprochen wurde.[1] Für die Wortführer der SPD aber personifizierte er zuallererst ein überkommenes autokratisches Staatssystem, welches sie zu »Feinden des Reichs« erklärt hatte und sich noch immer einer Lösung der sozialen Frage verweigerte.
[1] Vgl. Richard J. Evans (Hrsg.), Kneipengespräche im Kaiserreich. Stimmungsberichte der Hamburger Politischen Polizei 1892–1914, Hamburg 1989, S. 328ff., und Christopher Clark, Preußen. Aufstieg und Niedergang 1600–1947, München 2008, S. 679.
Link zur Quelle: »Lübecker Volksbote« vom 9. Juni 1914.